Anlässlich des Tags der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2025 richtet sich Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg, in einem offenen Brief direkt an die Bürgerinnen und Bürger im Land.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
der Präsident des Gemeindetags, Steffen Jäger, hat anlässlich des Tags der Deutschen Einheit am 3. Oktober für die Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg einen eindringlichen Appell zur Lage unseres Landes und zur Rolle der Kommunen veröffentlicht.
Internationale Krisen, der anhaltende Krieg in der Ukraine und die verschärfte geopolitische Lage zeigen Wirkung und bedrohen die wirtschaftliche Basis unseres Gemeinwesens spürbar. Sie zeigen sich in zwei Jahren Rezession, Standortverlagerungen und wachsendem internationalen Wettbewerbsdruck.
Dazu kommt die Überlastung der Kommunen durch von Bund und Land übertragene Aufgaben, für deren Kosten die Kommunen aber keine oder nur anteilige Erstattungen erhalten. Ein weiteres Beispiel: Die Unterfinanzierung der kommunal getragenen Krankenhäuser, deren Defizite kommunale Haushalte übernehmen müssen. Was deren Leistungsfähigkeit massiv überfordert.
Die finanziellen Folgen zeigen sich in unserer schwindenden Fähigkeit, in unseren Gemeinden nachhaltig in dringlich anstehende Zukunftsprojekte u.a. im Schul- und Kindergartenbereich aus weitgehend eigener Kraft zu investieren. Erforderliche Investitionen können mittlerweile nur noch realisiert werden, wenn wir unsere Verschuldung in den nächsten Jahren massiv erhöhen.
Es gilt, diese neue Wirklichkeit anzuerkennen - und aus dieser ernsten Krise den Mut zur Erneuerung zu schöpfen.
Ich unterstütze den nachfolgend abgedruckten Brief von Präsident Jäger ausdrücklich, weil auch wir hier in Buchen spüren, was Tag für Tag auf dem Spiel steht. Notwendige Reformen dürfen nicht mehr nur diskutiert, sondern müssen zügig angegangen werden.
Freundliche Grüße
Ihr Roland Burger
Stuttgart im September 2025
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Bürgerinnen und Bürger,
mein Name ist Steffen Jäger, und ich bin Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg – der Stimme von 1.065 Städten und Gemeinden.
Heute will ich mich auf ungewöhnliche Weise direkt an Sie wenden: nicht nur als Funktionsträger, sondern als Demokrat, als Bürger dieses Landes.
Denn die Lage ist ernst. Das spüren die Städte und Gemeinden. Das spüren Sie. Das spüren wir alle.
Der Krieg in der Ukraine führt uns schmerzhaft vor Augen: Frieden in Europa ist keine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig verschieben sich globale Machtverhältnisse. Die USA distanzieren sich – wirtschaftlich und sicherheitspolitisch. Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass andere unsere Verteidigung übernehmen. Wir sind selbst gefordert. Wir müssen selbst Verantwortung tragen.
Gleichzeitig geraten wir wirtschaftlich unter Druck. Zwei Jahre Rezession, Standortverlagerungen, wachsender internationaler Wettbewerbsdruck: Unsere Volkswirtschaft hat an Schwung verloren.
Wirtschaftliche Stärke ist aber das Fundament für das, was unser Gemeinwesen ausmacht: ein funktionierender Sozialstaat, ein handlungsfähiger Rechtsstaat, eine lebendige Demokratie.
Diese Demokratie lebt in unseren Städten und Gemeinden. Hier wird im Schulterschluss zwischen Rathaus und Bürgern die Grundlage für das Gelingen unseres Staates gelegt.
Straßen, Brücken, Wasserversorgung, Kitas, Schulen, Feuerwehr, Sport- und Kulturstätten, Vereinsförderung und vieles mehr. Daseinsvorsorge und das gesellschaftliche Zusammenleben sind ohne handlungsfähige Kommunen nicht möglich.
Was droht, wenn wir nicht handeln
Die Kommunen sind damit das Rückgrat eines gelingenden Staates. Doch ihre Handlungsfähigkeit ist gefährdet. Die Kommunalfinanzen sind in einer solch dramatischen Schieflage, dass bereits die Erfüllung der Pflichtaufgaben kaum mehr möglich ist.
Konkret heißt das: Die Sanierung der Sporthalle, des Kindergartens oder der Schule fallen aus. Investitionen in Klimaschutz oder Klimawandelanpassung werden gestrichen. Die Nutzungsgebühren steigen, die Hebesätze für Grund- und Gewerbesteuer reichen nicht mehr aus. Frei- und Hallenbäder lassen sich nicht mehr halten, die Vereinsförderung kommt auf den Prüfstand, Öffnungszeiten in Kitas oder auch der Bibliothek müssen reduziert werden.
Keine dieser Maßnahmen will ein Kommunalpolitiker beschließen – doch vielerorts werden sie unvermeidlich.
Geld allein wird dies jedoch nicht lösen. Denn was wir erleben, ist nicht nur eine finanzielle Überlastung – es ist ein strukturelles Problem. Der Staat lebt über seine Verhältnisse – und das seit Jahren.
Die Summe an staatlichen Leistungszusagen, Standards, Versprechen hat ein Maß erreicht, das mit den verfügbaren Ressourcen nicht mehr erfüllbar ist.
Es braucht deshalb eine mutige Reform – strukturell und gesamtstaatlich
Deshalb sind wir als Gesellschaft gefordert, eine strukturelle Antwort zu geben. Wir brauchen eine ehrliche, gesamtstaatliche Reform. Das heißt: weniger Einzelfallgerechtigkeit und mehr Eigenverantwortung. Wir brauchen eine Aufgaben- und Standardkritik, die den Mut hat, Prioritäten zu setzen. Und wir brauchen die Bereitschaft, neu zu fragen: Was kann und muss der Staat leisten – und was kann er nicht mehr leisten, ohne sich selbst zu überfordern?
93 Prozent der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Baden-Württemberg fordern eine konsequente Reform in diesem Sinne.
Doch auch wir als Gesellschaft müssen bereit sein, eine solche Reform mitzugehen. Wir müssen beitragen – nicht nur erwarten. Wir müssen vertrauen – in unseren Gemeinsinn, seine Werte und unsere Kraft des Füreinanders. Wir müssen bereit sein, mehr zu leisten – für den Staat, für die Gemeinschaft, für das Gelingen unserer freiheitlichen Demokratie.
Demokratie ist kein Bestellshop – sie ist die Einladung an alle, sich mit ganzer Kraft für eine freiheitliche und wohlständige Gesellschaft einzubringen. Und deshalb kann Demokratie auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn wir alle unseren Beitrag dazu leisten.
Wir brauchen auch Ehrlichkeit in der Migrationspolitik. Integration gelingt dann, wenn die Zugangszahlen beherrschbar und auch Mitwirkung und Rückführung ein wirksamer Teil des Systems sind. Wer zu uns kommt, muss unsere freiheitlich-demokratischen Grundwerte achten. Und er oder sie muss auch zum Gelingen von Gesellschaft und Volkswirtschaft beitragen. Eine erfolgreiche und akzeptierte Migrationspolitik muss dies leisten. Dies aber immer auf der Grundlage von Humanität und Verantwortung. Menschenverächter haben keine Lösungen, sie haben nur Propaganda. Wir Demokraten müssen beweisen, dass wir es besser können.
Und auch beim Klimaschutz gilt: Wir können als Deutschland nur erfolgreich sein, wenn unser Weg für andere Staaten ein Vorbild ist – klar im Ziel, ökologisch wirksam, ökonomisch tragfähig und gesellschaftlich akzeptiert.
Das Grundgesetz als unser gemeinsames Fundament
Unser Grundgesetz war nie als Schönwetterordnung gedacht. Es wurde formuliert in einer Zeit, in der unser Land moralisch, politisch und wirtschaftlich in Trümmern lag. Es ist eine der
größten Wohltaten, die unser Land je erfahren hat. Und es verpflichtet uns: zur Selbstverwaltung, zur Verantwortung, zur Teilhabe. Zur res publica – zur gemeinsamen Sache.
Die Gemeinden sind der Ort der Wahrheit, weil sie der Ort der Wirklichkeit sind.
Es gilt, diese Wirklichkeit anzuerkennen und aus der Krise den Mut zur Erneuerung zu schöpfen.
Und deshalb möchte ich dafür werben: machen wir uns bewusst, was unser Staat, was unsere Demokratie zum Gelingen braucht.
Und dazu gehört zuallererst eine neue Ehrlichkeit und ein nüchterner Realismus: Wir stehen vor den größten Herausforderungen seit Jahrzehnten. Als Vertreter der Kommunen sagen wir Ihnen die Wahrheit: dies wird uns allen etwas abverlangen.
Ich bin aber davon überzeugt, wir können das meistern; Gemeinsam, mit Mut und Willen.
Mit einer Haltung, die nicht fragt, was andere tun, sondern, was wir selbst beitragen können. Die Bereitschaft, auch dann standhaft zu bleiben, wenn es unbequem wird. Die Chance, dass wir alle auch künftig in einem lebendigen und freien Land leben dürfen, muss uns Ansporn sein.
Und daher meine Bitte: Machen Sie mit. Für unsere Kinder. Für unser Land. Für unsere Demokratie. Für uns.
In Verantwortung und Verbundenheit,
Ihr Steffen Jäger
Der Landkreistag begrüßt ausdrücklich den offenen Brief an die Bürgerinnen und Bürger im Land, den Gemeindetagspräsident Steffen Jäger zum Tag der Deutschen Einheit veröffentlicht hat. Dort wird die dramatische finanzielle Lage der Kommunen realistisch beschrieben und es werden zu Recht mutige Reformen sowie ein gesamtgesellschaftlicher Haltungswechsel eingefordert. Der Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg, Landrat Dr. Achim Brötel (Neckar-Odenwald-Kreis), der zugleich Präsident des Deutschen Landkreistags ist, äußert sich dazu wie folgt:
„Als Landkreise teilen wir ganz ausdrücklich die tiefe Sorge, die in dem Brief von Gemeindetagspräsident Steffen Jäger zum Ausdruck kommt. Denn die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind in der Tat gewaltig.
Da sind zum einen die geopolitischen und weltwirtschaftlichen Verwerfungen: die offenen und versteckten Kriege rund um den Globus und bis vor unsere Haustür, eine in ihren Grundfesten erschütterte Weltwirtschaftsordnung, die massive Erschütterung unseres bundesdeutschen Geschäftsmodells basierend auf hohen Exportquoten und niedrigen Energiepreisen.
Und da sind zum anderen und sich verschärfend vor allem auch die Langzeitherausforderungen, die dadurch nicht kleiner werden, dass sie durch Akutkrisen immer wieder ein Stück weit verdrängt werden. Ich nenne hier nur die drei großen D: die unerbittliche Demografie, die unser System sozialer Sicherung schon heute vor gewaltige Herausforderungen stellt, die Dekarbonisierung, also die Umstellung von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energiequellen, deren Dringlichkeit die Temperaturrekorde dieses Sommers nochmals eindrücklich bestätigt haben, schließlich das dritte große D, die Digitalisierung, bei der wir in Deutschland gegenüber anderen europäischen Ländern deutlich ins Hintertreffen geraten.
Und als ob dies alles nicht genug wäre, stecken die Kommunen aktuell in einer Finanzkrise von noch nie dagewesenem Umfang. Den Landkreisen, Städten und Gemeinden droht in diesem Jahr ein bundesweites Defizit von mehr als 30 Milliarden Euro. Neun von zehn Landkreisen in Baden-Württemberg können ihre Aufwendungen nicht mehr aus laufenden Erträgen bezahlen. Die Kommunalfinanzen befinden sich also ganz offensichtlich im freien Fall.
Die bittere Folge ist: Die Kommunen verlieren zusehends ihre Handlungsfähigkeit, die kommunale Daseinsvorsorge gerät immer mehr unter Druck. Und: Das, was wesentlicher Teil der Erfolgsgeschichte unseres Landes ist, die kommunale Selbstverwaltung, droht wegzurutschen.
Vor diesem Hintergrund teilen wir Landkreise ausdrücklich die Einschätzung, dass es rasch grundlegender Reformen bedarf, um diese vielfältigen Herausforderungen erfolgreich bewältigen zu können. Dazu gehört der konsequente, systematische Abbau überzogener Standards und überbordender Bürokratie ebenso wie eine mutige, kluge Neuausrichtung des Sozialstaats in Richtung Zukunftsfestigkeit. Diese Reformen sind überfällig – und sie müssen vor allem auch schnell umgesetzt werden. Die Demokratie wird nämlich immer vor Ort gewonnen, vielleicht aber eben auch vor Ort verspielt.
Zugleich wollen auch wir sehr deutlich machen, dass die anstehenden strukturellen Reformen uns allen etwas abverlangen werden. Dies wird schon angesichts der Größe der Herausforderungen gar nicht anders möglich sein. Und natürlich wird es dabei teilweise auch zu Veränderungen kommen müssen, die zu akzeptieren nicht leichtfallen wird. Darauf müssen wir uns alle gemeinsam einstellen.
Daher appellieren und setzen auch wir als Landkreise auf den Realitätssinn, die staatsbürgerliche Haltung und das Verantwortungsgefühl aller Bürgerinnen und Bürger unseres Landes:
Unterstützen Sie die erforderlichen, weil zukunftssichernden Reformprozesse. Beteiligen Sie sich als Demokratinnen und Demokraten konstruktiv an den Diskussionen um die richtige Ausgestaltung der zwingend erforderlichen Reformen. Und tragen Sie die demokratisch getroffenen Entscheidungen solidarisch mit.
Lassen Sie uns alle zusammen die Erfolgsgeschichte Deutschlands auch in diesen schwierigen Zeiten fortschreiben. Deutschland ist ein starkes Land und es kann stark bleiben, wenn wir uns alle gemeinsam darum bemühen und uns dafür einsetzen. Denn genau das ist Demokratie – die Kraft der Vielen.“